Ich habe in den 80-er Jahren im Pflegebereich gearbeitet und habe meine Arbeit geliebt, auch wenn mir im Nachhinein bewusst geworden ist, wie weit entfernt von einer professionalisierten Pflege wir damals waren. Es war noch sehr traditionell; wir jungen Frauen wurden von den PatientInnen „Schwester“ gerufen und trugen „Schürzen“. Ich meine wohlgemerkt nicht einen Kasack oder Kittel über Hosen, sondern diese Art Röcke mit einem Unterrock, damit die Beinumrisse nicht durchschimmerten, komplett mit Strumpfhose. Ich kenne den korrekten Begriff nicht und wenn ich es google, erscheinen vor allem Resultate wie „sexy Krankenschwestern-Kostüme“. Es gab pro Lehrgang übrigens so 1-2 Männer. Kurze Zeit später änderte sich zumindest das mit den Hosen, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie alt ich mich fühle, wenn ich das schreibe!
Schon damals war es im Pflegebereich gang und gäbe, sogenannte „alternativ-medizinische“ Verfahren anzuwenden und ich habe diese Methoden lange Zeit nicht in Frage gestellt. Es gehörte einfach dazu, ich nahm es als bare Münze und hielt es für fundiert. Zu meiner Verteidigung darf ich anführen, dass es damals kein Internet im heutigen Sinne gab, mit diesem einfachen Zugang zu einer ganzen Fülle von Wissen. Auf der einen Seite befolgten wir also brav und naiv die Anweisungen der Ärzte (ja, es waren fast ausschliesslich Männer), auf der anderen Seite sahen wir Pflegende uns irgendwie als intuitiver, weiser und ganzheitlicher als diese. Unausgesprochen gab es die Aufteilung „Männer = seelenlose Apparatemedizin“, die halt sein muss, versus „Frauen = einfühlend und sanfte Medizin“. Ein bisschen überspitzt formuliert.
Damals erschienen auch die unsäglichen Machwerke wie "Schicksal als Chance" und „Krankheit als Weg“ von Dahlke/Dethlefsen, oder wie sie alle hiessen. Der in diesen Büchern hergestellte Zusammenhang zwischen Krankheit und Schuld hat mich lange beschäftigt. Für jedes Symptom sei eine psychosomatische Deutung zwingend nötig und die Kranken seien für ihre Krankheit ohne jede Einschränkung selbst verantwortlich. Ja, natürlich auch Kinder mit Behinderung, denn die hätten halt in ihrem früheren Leben etwas falsch gemacht. Und wenn man es nicht wahrhaben wolle, sei es natürlich umso wahrer, aber man sei halt geistig einfach noch nicht so weit entwickelt, um es anzunehmen. So absurd mir dies aus heutiger Sicht erscheint, so sehr hat es mich damals mitgenommen, gerade auch im Zusammenhang mit dem frühen Krebstod meiner Mutter. Andere Sachen sind hingegen nur lustig: Sie haben einen eingewachsenen Zehennagel? Nun ja, da handelt es sich wahrscheinlich um einen Konflikt zwischen Vitalität und Urvertrauen, oder Sie haben im Leben zu wenig Raum für erregende Themen... Aber darauf sind Sie sicher selber gekommen, gell? ;-)
Selbstverständlich denke ich, dass wir eine Verantwortung für unser Leben und unsere Gesundheit haben, keine Frage, aber die erwähnte Denkweise finde ich menschenverachtend. Die Autoren nennen ihre Sicht übrigens selber „esoterisch“ und „nicht wissenschaftlich“ (und halten das für etwas Gutes). Nun könnte man sagen, ja, das sind extreme Ansichten und sicher nicht mehr aktuell, aber ich habe gestaunt, wie ich Jahrzehnte später im Verlaufe meiner Ausbildungen (in Klassischer Massage, Autogenem Training und Coaching) immer wieder auf solche Strömungen gestossen bin! Mixen Sie noch ein paar pseudomedizinische Verfahren, Räucherstäbchen und angebliche Schwingungen dazu und Sie haben den schädlichen Mix, der mir so widerstrebt. Es ist mir durchaus bewusst, dass es dazwischen etliche Grautöne gibt und gerade „Alternativmedizin“ viel mit Lifestyle und Wellness zu tun hat! Für die wirklich gravierenden Probleme nehmen auch die AnhängerInnen von „sanften“ Methoden dann doch wieder die sogenannte „Schulmedizin“ in Anspruch, wie sie in oben genanntem Zusammenhang etwas verächtlich genannt wird.
Unter dem Oberbegriff „Esoterik“ versammeln sich verschiedenste mythische und spirituelle Praktiken und Methoden, die wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen, um es mal gelinde auszudrücken. Die Versuchung ist gross, sich an dieser Stelle über die absurdesten Auswüchse lustig zu machen, zum Beispiel die KartenlegerInnen im „Mike Shiva-Style“. Das wäre amüsant und dabei könnte leicht vergessen gehen, dass auch andere, von vielen Menschen angewandte Therapiemethoden und in der Drogerie verkaufte Mittelchen auf den genau gleichen „Grundlagen“ beruhen. Dass jeder Mensch nach seiner Façon glücklich werden soll, erkenne ich im Grundsatz natürlich an, so lange diese Haltung nicht mit der Ablehnung von Wissenschaft und Vernunft einhergeht. Ich ziehe eine Grenze, wenn verzweifelten, Hilfe suchenden Menschen mit absurden Praktiken das Geld aus der Tasche gezogen oder Kranken subtil ein Schuldgefühl vermittelt wird! Gruselig wird es spätestens dann, wenn rechte EsoterikerInnen und „New Age“-inspirierte alt-Hippies zusammen mit extremen politischen Gruppierungen ein gemeinsames Thema und Feindbild finden, wie jüngste Ereignisse gezeigt haben.
Ich bin selber nicht gefeit vor Experimenten. Auch mit meinem heutigen Wissen und meiner Einstellung habe ich vor einer Weile (trotz innerlichen Augenrollens) ein Nahrungsergänzungsmittel probiert, weil mir eine Bekannte überzeugend berichtet hatte, dass es ihr enorm mit der Fatigue (nach einer Krebserkrankung) geholfen habe. Ob es bei mir auch gewirkt hat? Nein, aber wahrscheinlich hätte ich vorher meine Chakren reinigen lassen sollen ;-) Es hat mir gezeigt, wie schnell man sich zu etwas hinreissen lassen kann, denn da ist gegen alle Vernunft immer ein bisschen Hoffnung!
Entspannungstechniken, Achtsamkeit und Meditation sind wirksam, wissenschaftlich plausibel und mit den neuesten Ergebnissen der Hirnforschung glücklicherweise aus diesem Dunstkreis befreit worden. Aber auch diese hilfreichen Techniken findet man selten ohne den ganzen esoterischen Überbau!
Diese Hintergrund-Informationen klären vielleicht die Frage: „Was für ein Problem hat die eigentlich mit Esoterik?“ und der Auslöser ist der Podcast von Frau Dr. med. Natalie Grams-Nobmann, bei dem ich zu Gast sein durfte. Die Themen waren Meditation und Entspannungstechniken und zwar - Überraschung! - losgelöst von einem esoterischen Weltbild. Frau Grams-Nobmann hat „Was wirklich wirkt - Kompass durch die Welt der sanften Medizin“ geschrieben, ein interessantes und informatives Buch, das ich gerne weiter empfehle! Ich freue mich, wenn Sie den Podcast hören, die Links finden Sie unten stehend.
Podcast Grams' Sprechstunde / "Stress reduzieren - Wie meditiert man ohne Esoterik?"
Link für alle anderen Plattformen
Kommentar schreiben
Elisabeth Bloch (Freitag, 01 April 2022 13:27)
Guter Beitrag und Podcast!
Ich sage mir jedem das Seine und ihr/ihm hilft. Wenn ich nicht einschlafen kann hilft mir am besten Autogenes Training und seit vielen Jahren ist der Wald meine Meditation, ich Waldbade also schon Jahrzehnte lang�bevor das Wort überhaupt erfunden wurde…
Patricia (Freitag, 01 April 2022 14:19)
Danke! Ja, das mit dem „Waldbaden“ finde ich auch amüsant :-)