Privilegien

In der Familie haben wir am letzten November-Wochenende Thanksgiving gefeiert. Ja, ja, ich weiss, wieder so eine aus Amerika importierte Sitte, aber ich finde den Grundgedanken schön und wir mögen Truthahn ;-) Ich habe so vieles in meinem Leben, für das ich sehr dankbar bin! Die Privilegien, die wir in der Schweiz so selbstverständlich geniessen, gehören dazu. Gerade wenn ich an Amerika denke, wo ich für eine Weile gelebt habe, fallen mir auf Anhieb etliche Dinge ein, die ich an der Schweiz schätze! Aus aktuellem Anlass und weil ich selber von einer chronischen Krankheit betroffen bin, nenne ich schon „nur“ die Gesundheitsversorgung und -kosten. Nebst meiner Konsternation, dass die Amerikaner:innen dauernd „Sweden“ und „Switzerland“ miteinander verwechseln, weiss ich noch, wie geschockt ich damals war, dass ich in den USA keine Krankenversicherung abschliessen konnte. Diesbezüglich hat sich einiges verbessert, aber eine vernünftige Gesundheitsversorgung und/oder Krankenversicherung sind für viele Menschen immer noch unerreichbar. 

 

Zum Jahresabschluss und angesichts der Pandemie wollte ich eigentlich einen versöhnlichen und beschwichtigenden Artikel schreiben. Und auch wenn ich als Verfechterin des goldenen Mittelweges alles Extreme ablehne, wollte ich von „Brücken schlagen“, Meinungsvielfalt und Toleranz sprechen. Aber ich habe schnell gemerkt, dass diese „Wort zum Sonntag-Ambitionen“ im Moment nicht stimmen für mich - Adventszeit hin oder her. Ich weiss, dass viele Menschen von dem Thema und der Politik die Nase voll haben, aber der letzte Abstimmungssonntag und dass die Schweiz das einzige Land der Welt ist, in dem die Bevölkerung schon zum zweiten Mal über das Pandemie-Management abstimmen konnte, haben mich über Privilegien und Dankbarkeit sinnieren lassen. 

 

Ich bin mir der Vorteile, die wir hier geniessen jeden Tag bewusst, wenn ich mein teures MS-Medikament schlucke. Ja, es gibt im Leben noch mehr als grundlegende Bedürfnisse und das sagen zu können, ist auch schon wieder ein immenses Privileg. Wir kämpfen in der modernen Gesellschaft mit anderen Herausforderungen und auch in der Schweiz ist nicht alles Gold, was glänzt. Aber wir können viele grossartige Errungenschaften nutzen. Sozialversicherungen gehören dazu, wenn das System auch kompliziert und bei weitem nicht perfekt ist. Wenn ich in den USA erzählt habe, dass bei uns selbst Arbeit suchende Personen bezahlte „Ferien“ zugut haben, haben die das für einen Witz gehalten. Und ich mache mich absolut nicht lustig darüber, ich weiss, welche Einschränkungen es gerade für Menschen mit tiefem Einkommen bedeutet, auf 20-30% ihres Einkommens zu verzichten! Für die schweizerische Bevölkerung kann es manchmal eine lästige Pflicht sein, aber auch die direkte Demokratie gehört zu der Einzigartigkeit unseres Landes und auch da haben meine amerikanischen Freunde jeweils gestaunt, wenn ich ihnen berichtet habe, worüber wir abstimmen können und wie das politische System funktioniert. Ausdehnungs- und Verbesserungsmöglichkeiten gibt es immer, klar. Selber in die Politik einzusteigen, war allerdings nie ein Thema für mich, schon gar nicht bei dem heutigen Klima. Dazu bin ich zu harmoniebedürftig, es fällt mir schon schwer, Bekannte auf Facebook zu „entfreunden“, geschweige denn mich gehässigen und persönlichen Angriffen auszusetzen. Dass es ein Privileg ist, an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen zu können, war mir bereits in jungen Jahren bewusst. Ich erinnere mich, dass ich schon zuhause als Kind politische Diskussionen mitverfolgt habe und ich nerve bei Gelegenheit immer noch gerne mit meiner Meinung, dass es selbstverständlich sein sollte, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen und die politischen Prozesse zu achten. Auch deshalb finde ich es eine Schande, wenn zum ersten Mal das Bundeshaus wegen einer eidgenössischen Abstimmung abgeriegelt werden muss. Ich weiss, wie sehr man sich damit in die Nesseln setzen kann, aber ich muss doch einmal deutlich sagen, wie bedenklich ich die „Trumpismus“-ähnlichen Ereignisse und Ansichten finde, die in letzter Zeit aufgetaucht sind. Dass die vernünftige, leise Mehrheit nach wie vor solide dominiert, tröstet mich nicht ganz darüber hinweg. Aber gewisse Meinungen muss man zwangsläufig so stehen lassen. Erklärungsversuche und Informationen stossen an ihre Grenzen, wenn sich Menschen lieber auf gefühlte Wahrheiten statt Tatsachen verlassen oder das Recht auf eine eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten verwechseln. „Agree to disagree“, wie sich das auf englisch nennt, sich darin einig sein, dass man sich nicht einig ist. Manchmal kann man keine „Brücken schlagen“ und muss das auch nicht schönreden, sondern sich ruhig davon distanzieren und Grenzen setzen. Und dankbar sein für alles Gute und Schöne im Leben! Nebst den etwas trockenen schweizerischen Privilegien, bin ich sehr glücklich und zufrieden, dass ich so vieles in meinem Leben geniessen darf! Was gibt es gerade in dieser Jahreszeit und der aktuellen Situation Schöneres, als es sich zu Hause wohlig einzurichten und gut gehen zu lassen? Damit habe ich die Kurve von „politisch brisant“ zu „Dankbarkeit“ hoffentlich gerade noch gekriegt und den Bogen geschlagen zu der Schönheit der stillen Zeit und dem Zauber des Advents! Und sonst ist es auch okay.  

 

Ich wünsche Ihnen, dass die Vorweihnachtszeit und die Festtage für Sie hoffnungsvoll, gesund und friedlich verlaufen! Und natürlich kann ich es mir an dieser Stelle nicht verkneifen darauf hinzuweisen, wie gut es der Psyche tut, zwischen den Jahren seinen Kleiderschrank oder etwas anderes „auszumisten“ ;-) Nebst Spaziergängen an der frischen Luft, einer stillen Atempause, fröhlichem Backen oder Basteln, oder was auch immer Ihnen gut tut!  


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Kommentare: 4
  • #1

    Nelli (Dienstag, 07 Dezember 2021 13:16)

    Gut geschrieben! �

  • #2

    Patricia (Dienstag, 07 Dezember 2021 14:17)

    Vielen Dank!

  • #3

    Elisabeth Bloch (Dienstag, 07 Dezember 2021 16:17)

    Wir immer sehr lesenswert!
    Gerade heute Morgen habe ich mir gedacht wie gut wir es eigentlich in der Schweiz haben.
    Mein Mann hatte die Booster Impfung, in die Praxis rein und zack war es vorbei. Keine Warteschlangen in der Kälte!
    Dazu einen Hausarzt der mir versichert dass ich ihn jederzeit anrufen kann sollte es Probleme geben.
    Geniesse die Adventszeit ���

  • #4

    Patricia (Dienstag, 07 Dezember 2021 17:25)

    Vielen Dank und gleichfalls! Ja, das ist alles nicht selbstverständlich und gelegentlich tut es gut, sich daran zu erinnern.