Wer mich kennt (oder mein Buch gelesen hat), weiss, dass ich meine Umgebung gerne ordentlich und strukturiert mag. Unsere Schränke und Schubladen präsentieren sich aufgeräumt und jedes Ding hat seinen Platz. Das bringt Ruhe und Übersicht ins Leben und erleichtert den Alltag ungemein, finde ich. Zum Glück ist mein Ehemann auch dieser Meinung! In gewissen Situationen wird mir allerdings gewahr, dass meine perfektionistische Ader ziemlich ausgeprägt ist und ich akzeptiere bewusst etwas „Unordnung“. Nein, natürlich rede ich nicht von einem Tohuwabohu in der ganzen Wohnung, meine Toleranzschwelle erreiche ich schon, wenn ich ein paar Papiere auf der Küchentheke liegen lasse, die ich später noch einmal brauche und nicht immer alles gleich wegräume. Dass ich „künstlich“ solche Situationen kreiere, könnte mir wiederum zu denken geben, aber wir wollen ja nicht alles über-analysieren.
Zu meinem Ordnungsbedürfnis stehe ich und ich denke, es spricht der pure Neid aus denjenigen, die es als leicht zwanghaft betiteln würden ;-) In anderen Bereichen habe ich jedoch meine Perfektionsansprüche abgelegt. Ich kann zwischenzeitlich auch Unfertiges und Unvollkommenes gut tolerieren, sogar geniessen. „Machen Sie eine Pause, BEVOR Sie zu erschöpft sind“, hat man mir in der Physiotherapie gesagt. Das gilt für den müden Fussmuskel ebenso wie für Denkarbeit und mentale Prozesse. Ich bin in der privilegierten Lage, mir meine Arbeiten frei einteilen zu können und habe wegen der MS gar keine andere Wahl mehr, als mir regelmässig Pausen zu gönnen. Aber im Berufsleben ist das häufig immer noch verpönt, oder? Schneller, höher, weiter, ist die Devise. Und ein Burnout als „Ritterschlag?“ Allgemein kommen Erholung und Entspannung zu kurz und Pausen während der Arbeitszeit oder auch im Homeoffice lösen bei vielen sogar ein schlechtes Gewissen aus. Dabei wirken gerade kurze Atempausen im Alltag wahre Wunder und die sind auch nützlich und hilfreich, wenn man noch nicht „ü50“ ist!
„Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen“, ist ein tief verankerter Glaubenssatz. Der Satz beinhaltet ja auch, dass Arbeit keinen Spass machen kann. Das ist traurig genug und erlebe ich glücklicherweise anders. Die Tendenz aber, zuerst noch „rasch“ dieses und jenes erledigen zu wollen, bevor ich mir eine Pause gönne, kenne ich sehr gut. Das mach ich jetzt noch und dann kann ich mich entspannen. Ach, wenn ich es jetzt fertig mache, ist es geschafft und ich muss nicht mehr daran denken. Dabei ist es überhaupt nicht wichtig oder dringend und ich könnte es ebenso gut später am Nachmittag oder am nächsten Tag machen, auch wenn ich beim Start in den Morgen noch überzeugt war, diese Aufgabe heute mit Leichtigkeit bewerkstelligen zu können. Meine Tätigkeit mit den Klient*innen will ich gut und richtig machen, das ist gar keine Frage! Aber es kümmert keinen Menschen, ob ich heute abgestaubt oder das Bett frisch bezogen habe oder es erst morgen tue. Oder ob es für einmal nur Cornflakes zum Abendessen gibt. (Mein Ehemann findet das zur Abwechslung sogar ganz fein.) Wenn ich etwas schreibe, habe ich hohe Ansprüche an mich selber, aber wenn ich mir nicht vor Augen gehalten hätte, dass ein Buch auch eine Fortsetzung haben kann, hätte ich das erste wohl nie veröffentlicht. Oder dass ein Instagram-Reel Menschen auch Freude bereiten kann, wenn ich es spontan aufnehme und es nicht perfekt bearbeitet ist. Dass man einen Blog-Beitrag auch nachträglich korrigieren kann, sollte doch ein Rechtschreibfehler unentdeckt geblieben sein. (Natürlich habe ich jetzt den Artikel gleich noch einmal von vorne durchgelesen ;-))
Ich kann gut annehmen, dass ein „unproduktiver“ Tag okay ist und ich mir den gönnen darf, obwohl es ja noch so viele interessante Dinge zu tun und auszuprobieren gebe. Es schwingt manchmal ein leises Bedauern mit, dass ich nicht mehr alles verwirklichen kann, was ich gerne möchte, im Gegenzug geniesse ich aber meinen entspannenden Lese-und Nickerchen-Nachmittag auf dem Sofa. Ja, ich achte (meistens) darauf, mir die Zeit für Pausen und Erholung zu geben, auch wenn es immer etwas zu tun und zu machen gebe, nicht nur in Haus und Garten. Aber ich könnte mich beispielsweise nie entspannen, so lange die Küche nicht aufgeräumt ist, da ziehe ich schon meine Grenzen. Ich bin aber immerhin so weit, dass ich dann ohne Probleme meinem Ehemann das Zepter übergeben kann ;-)